Leben im warmen Bauch der Erde:
Im kanadischen Montreal spielt sich der Alltag im Winter zehn Meter unter der Oberfläche ab
MONTREAL (w&p) – Es wird gemunkelt, daß es in Montreal Menschen geben soll, die den ganzen Winter über nicht ein einziges Mal nach draußen in die Kälte gehen. Menschen, die gefütterte Stiefel erst gar nicht besitzen und sich nie hinaus in den Schnee wagen. Dies ist wohl etwas übertrieben, doch möglich wäre es durchaus. Nicht, daß der Winter in Quebec, Canadas größter Provinz, nicht schön wäre – von November bis April herrscht hier ein richtiger weißer Winter mit viel Schnee und kräftigen Minusgraden. Aber für den arbeitenden Städter in der kanadischen Metropole am St. Lorenz-Strom sind sechs Monate Schnee und Januartemperaturen von bis zu minus 20 Grad Celsius doch eher eine Plage. So haben die erfindungsreichen Montrealer ihr Leben im Winter einfach nach unten verlegt, in die warmen Kavernen ihrer „Ville souterraine“. Während sich im Frühjahr und Sommer das berühmte „joie de vivre“ der quirligen Metropole vor allem in den Straßencafes und auf den grünen Boulevards im Freien zeigt, trifft man sich in der dunklen, kalten Jahreszeit unter der Erde. Man flaniert, geht einkaufen oder ins Kino, läßt sich die Schuhe flicken oder genießt in einem der vielen Cafes einen Cafe-au-lait. Und dies alles zehn Meter unter der Erde.
Geboren wurde die Idee der unterirdischen Stadt bereits Anfang der 60er Jahre, als der erste Wolkenkratzer der Innenstadt geplant wurde. Gleich neben dem Neubauprojekt lag eine tiefe Schneise, in der früher die Eisenbahnschienen verlaufen waren. Anstatt nun das Loch aufzufüllen oder Tiefgaragen zu bauen, wurde ein großes Einkaufszentrum mit Kinos und Cafes geschaffen. Der „Place Ville Marie“, die Keimzelle der „Ville souterraine“, war fertig und wurde schnell zum beliebten Treff der Montrealer.
Die Idee machte Schule: Wann immer in den folgenden Jahren irgendwo in der Innenstadt gebuddelt wurde, legte man neue Passagen und Untergrundzentren an. Ebenso beim Bau der U-Bahn. Die Ein- und Ausgänge der Metro wurden gleich in Wohnhäuser und Bürogebäude gelegt und direkt an die Shops im Souterrain angeschlossen. Und schon bald führten auch Tunnels zu den umliegenden Gebäuden. Niemand mußte mehr hinaus in die Kälte, wenn draußen der gefürchtete Blizzard durch die Straßen fegte.
Rund 30 Kilometer lang ist das weitverzweigte Netz der Passagen und Tunnels, der mehrstöckigen Galerien und unterirdischen Plätze mittlerweile. 200 Restaurants, rund 40 Kinos, Theater und Konzertsäle, sieben große Hotels und fast 2.000 Läden sind dem Labyrinth im Bauch der Stadt heute ebenso angeschlossen wie 45 Banken, viele Ärzte, Anwälte und andere Dienstleister. Ein Shoppingmekka, das weltweit seinesgleichen sucht – und beim derzeitigen historisch niedrigen Stand des kanadischen Dollar ein echtes Schnäppchenparadies für europäische Besucher.
Etwa ein Drittel der Innenstadt ist mittlerweile unterirdisch vernetzt. Und es sind längst nicht nur Shops, die man hier findet. Brunnen und Skulpturen, Gummibäume und auch echtes Grün schmücken die Passagen. Jede der Metro-Stationen wurde von einem anderen Künstler gestaltet – mit Hinterglasmalerei, Neonkunst und Großplastiken. Die Universität und das Kongreßzentrum sind ebenso an die bunte Glitzerwelt unter Tage angeschlossen wie das spektakuläre und über die Grenzen der Stadt hinaus berühmte neue Museum für Moderne Kunst. Auch das Chinesenviertel Montreals liegt zum Teil unter der Erde. Und sogar der liebe Gott hat Anschluß an die Unterwelt: Die Ladengalerien der „Promenades de la Cathedrale“ haben direkten Zugang zu einer neugotischen Kirche aus dem Jahre 1859. Unter dem 51-stöckigen Büroturm an der Adresse 1.000 de La Gauchetiere findet man sogar einen Eislaufring – Grüße vom Winter draußen über der Erde.
Man könnte Tage zubringen in dem klimatisierten Labyrinth im warmen Bauch von Montreal – und viele Bürger machen das auch. Sie fahren morgens aus ihrem Appartement per Lift in die U-Bahnstation unter dem Haus, arbeiten in einem der Büros der Innenstadt, verbringen ihre Mittagspause unten in den Passagen, gehen einkaufen und abends vielleicht noch ins Ballett. Alles trockenen Fußes erreichbar, ein Winterpelz ist so überflüssig.
Nur das eigentliche Nachtleben Montreals, die vielen guten Jazzclubs, die Discos und Bars der Stadt sind paradoxerweise nach wie vor oberirdisch – auch wenn sie das Tageslicht eigentlich gar nicht brauchen. Aber so locken sie im Sommer die Flaneure besser an – und im Winter ist man per Taxi auch schnell da.
Über all den Verlockungen im Warmen sollte der Reisende aber gerade in Quebec einen Ausflug in die herrliche Winterlandschaft draußen nicht vergessen. Die Laurentischen Berge nördlich von Montreal bieten die ganze Palette des weißen Vergnügens: Lifte und Pisten fürs Skifahren am Mont Tremblant oder Mont Saint Sauveur, Motorschlitten-Trails und gespurte Langlaufloipen durch die malerisch verschneiten Bergwälder. Auch das Skigebiet im Süden Quebecs, Mont Orford, ist leicht erreichbar. Ein paar Tage läßt sich der Winter hier ganz gut ertragen – danach kann man ja wieder ins Souterrain von Montreal flüchten.