Von Volker Ullrich
Politische Parteien waren in Deutschland nie sonderlich populär. Zu keiner Zeit aber waren sie so verhaßt wie in der Weimarer Republik. „Aus der Angst um den Beuteanteil entstand auf den großherzoglichen Samtsesseln und in den Kneipen von Weimar die deutsche Republik, keine Staatsform, sondern eine Firma. In ihren Satzungen ist nicht vom Volk die Rede, sondern von Parteien. Wir haben kein Vaterland mehr, sondern Parteien; keine Rechte, sondern Parteien; kein Ziel, keine Zukunft mehr, sondern Interessen von Parteien.“
Dies schrieb Oswald Spengler 1924, als die Republik sich gerade von den schweren Krisen des vorangegangenen Jahres zu erholen begann. Damals befand sich der in München lebende Philosoph auf dem Höhepunkt seines Ruhms. Mit seinem zweibändigen Werk über den „Untergang des Abendlandes“ hatte er den Nerv einer durch Krieg und Revolution verunsicherten bürgerlichen Welt getroffen. Auch mit seiner pauschalen Verdammung der Parteien sprach Spengler den meisten seiner Zeitgenossen aus dem Herzen. Darin artikulierte sich nicht nur ein Unbehagen an der Weimarer Demokratie, sondern ein weitverbreitetes Ressentiment, dessen Wurzeln bis weit in die Kaiserzeit zurückreichten.
Vor 1918 waren die Parteien von einer verantwortlichen Mitgestaltung der Politik ausgeschlossen. Die Verfassung des Kaiserreichs stellte die Exekutive unabhängig von der gewählten parlamentarischen Vertretung, dem Reichstag. Dieser wirkte zwar an der Gesetzgebung mit, doch besaß er weder die Möglichkeit, die Regierung zu kontrollieren, noch gar Einfluß auf die Regierungsbildung zu nehmen.
„Alles ist auf die selbstverständliche Voraussetzung abgestellt: daß dies Parlament und seine Parteiführer niemals in die Lage kommen werden, eine Mitverantwortung für das Schicksal des Staates zu übernehmen.“ So klagte der Soziologe Max Weber noch 1917, im dritten Jahr des Weltkriegs, als das Ende des Kaiserreichs sich bereits anzukündigen begann. Doch die Parteien wurden bis zuletzt im Vorhof der Macht festgehalten. So fehlte ihnen der Anreiz, sich auf gemeinsame Ziele zu verständigen, Interessengegensätze zu überbrücken und Kompromisse zu schließen. Dies hat die deutschen Parteien schon früh ideologisch fixiert und doktrinär verhärtet und zu einer Lagermentalität geführt, die das parlamentarische System von Weimar belasten sollte.
Der von Bismarck und seinen Erben betriebenen Abwertung von Parlament und Parteien entsprach deren geringes öffentliches Ansehen. Der Reichstag wurde gern als „Schwatzbude“ tituliert; der Streit der Parteien erschien vielen als überflüssiger „Hader“, als schädlich für die Einheit der Nation. Dem entgegengestellt wurde die Parole von der „Regierung über den Parteien“, die angeblich nur dem Wohle des Ganzen verpflichtet sei. In diesem Sinne verstand sich vor allem die mit mancherlei Privilegien ausgestattete Bürokratie als Gegenspieler zum Parlament. Daß Parteipolitiker nur ihre egoistischen Interessen bedienten, daß Parteienherrschaft nur in Korruption und Chaos führen könne – diese Vorstellung hielt sich weit über das Ende des wilhelminischen Obrigkeitsstaates hinaus.
Mit dem Übergang zur parlamentarischen Demokratie im Herbst 1918 wandelte sich die Funktion der Parteien grundlegend. Von ihrer Randstellung rückten sie ins Zentrum des politischen Prozesses. Sie wurden zu legitimen Trägern der politischen Willensbildung. Doch in der Weimarer Verfassung von 1919 wurde diese neue Rolle nicht festgeschrieben. Den Grund für dieses Versäumnis sah Gustav Radbruch, einer der wenigen überzeugten Demokraten unter den führenden Weimarer Juristen, in dem überkommenen „ideologischen Glauben an die Möglichkeit eines Standpunktes über den Parteien“: „Die Überparteilichkeit der Regierung war geradezu die Legende, die Lebenslüge des Obrigkeitsstaates.“
Seite 1/6
weiterlesen: http://www.zeit.de/1993/28/das-weimar-syndrom